Pressemitteilung: Antidiskriminierungsberatungsstelle der Jüdischen Gemeinde Dortmund warnt vor Antisemitismus

In der ganzen Bundesrepublik haben sich in den letzten Tagen im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts antisemitische Vorfälle ereignet, so auch in der Region Westfalen-Lippe. Die Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit ADIRA in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Dortmund, warnt daher vor einer Zuspitzung des Antisemitismus und fordert, die Sorgen von Betroffenen ernst zu nehmen.

So hat ADIRA in ihrem geografischen Zuständigkeitsgebiet Westfalen-Lippe seit dem 11. Mai 2021 insgesamt neun antisemitische Vorfälle mit Bezug zum israelisch-palästinensischen Konflikt dokumentiert, von denen das Verbrennen einer israelischen Fahne vor der Synagoge in Münster sowie offen antisemitische Beleidigungen vor der Synagoge in Gelsenkirchen bundesweite Aufmerksamkeit erlangten. In diesen Fällen werden Jüdische Gemeinden sowie einzelne Jüdinnen und Juden als vermeintliche Stellvertreter*innen Israels identifiziert und für das Handeln des Staates verantwortlich gemacht – eine hochproblematische Gleichsetzung. 

Eine Vielzahl weiterer registrierter Vorfälle ereigneten sich auf anti-israelischen Demonstrationen, die in der Region u.a. in Bochum, Dortmund, Hamm, Bielefeld und Münster stattfanden. Auf Schildern wurde dabei beispielsweise der Staat Israel mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleichgesetzt oder mit der häufig gerufenen Parole „Kindermörder Israel“, die bereits seit dem Mittelalter existente antisemitische „Ritualmordlegende“ reaktiviert. „Wir sehen derzeit eine massive Zunahme von antisemitischen Vorfällen, die sich sowohl auf Demonstrationen ereignen, als auch in Sozialen Netzwerken und auf der Straße ganz direkt gegen Jüdinnen und Juden richten“, sagt Anna Ben-Shlomo, Beraterin bei ADIRA. So wurde ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde am Rande einer anti-israelischen Demonstration in Dortmund am 11. Mai von einem der Teilnehmenden antisemitisch beleidigt. Anna Ben-Shlomo weist darauf hin, dass „solche Vorfälle zeigen, dass es bei den Demonstrationen leider nur selten um Frieden zwischen Israel und Palästina geht, sondern oft darum, diese als Plattform für antisemitische Parolen und Angriffe zu nutzen.“ Die Mitarbeitenden der Beratungsstelle plädieren daher dafür, antisemitische Vorfälle auf Demonstrationen und vor Synagogen nicht als Protest zu verharmlosen, sondern auch deutlich als Antisemitismus und Gefahr zu benennen.

Die aktuellen Vorfälle stehen zwar im Zusammenhang mit der aktuellen Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts, sind aber nicht ursächlich hierauf zurückzuführen. „Was wir beobachten, ist ein israelbezogener Antisemitismus, der antisemitische Stereotype auf den Staat Israel überträgt. Der Konflikt dient dabei als Projektionsfläche für Hass auf Jüdinnen und Juden, der dann vermeintlich legitimiert werden kann“, erklärt Micha Neumann, Berater bei ADIRA. Politische Kritik ist natürlich kein Tabu, überschreitet jedoch oft die Grenze zum Antisemitismus. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Israel dämonisiert wird oder genozidales Handeln unterstellt wird, antisemitische Verschwörungsmythen bedient werden oder dem Staat das Existenzrecht abgesprochen wird. „Wir erleben allerdings häufig, dass israelbezogener Antisemitismus nicht als solcher erkannt wird oder bagatellisiert wird, hier besteht ein hoher Aufklärungsbedarf“, kritisiert Micha Neumann. 

Alexander Sperling, Geschäftsführer des Landesverbands der Jüdischen Gemeinde von Westfalen-Lippe betont hierzu: „Wenn Protest gegen den Staat Israel mit Parolen voller Hass zu bedrohlichen Aufmärschen in Innenstädten und sogar vor Synagogen führt, handelt es sich offensichtlich um puren Antisemitismus. Dass dieser israelbezogene Antisemitismus sich direkt gegen uns Juden hier in Deutschland richtet, ist jedoch kein neues Phänomen. Auch ohne die aktuelle Eskalation erleben wir als Jüdinnen und Juden in unserem Alltag seit langem wie aus Israelfeindschaft antisemitische Hetze wird.“

Wichtig ist zudem eine präzise Einordung der Akteur*innen bei den aktuellen antisemitischen Vorfällen. So waren beispielsweise auf der Demonstration in Dortmund am 11. Mai Symboliken der als Terrororganisation eingestuften islamistischen „Hamas“ als auch der türkisch-rechtsextremen Organisation „Graue Wölfe“ zu erkennen. Auch die Vorfälle vor den Synagogen gingen von Personen aus dem muslimisch-arabischen Milieu aus. Aus Sicht der Beratungsstelle ADIRA ist daher eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in muslimischen Communities notwendig. Diese sollte jedoch nicht dazu führen, Antisemitismus zu kulturalisieren und exklusiv nur einer Gruppe zuschreiben zu wollen. Wer mit Vokabeln wie „importierter Antisemitismus“ operiert oder Kritik am Antisemitismus mit Ressentiments gegen Muslime verbindet, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Im Gegenteil zeigt sich hier ein mangelndes Verständnis des Antisemitismus, der nach wie vor ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und in unterschiedlichen Milieus und politischen Spektren zu finden ist. Dies ist allein daran erkennbar, dass an den Demonstrationen auch antiimperialistisch-linke Gruppen teilnahmen und im öffentlichen Diskurs der Antisemitismus aus der „politischen Mitte“ zu Tage tritt.

„Wir können in unserer Beratungsarbeit feststellen, dass auch der israelbezogene Antisemitismus von ganz verschiedenen Gruppen ausgeht“, macht Johanna Lauke, Beraterin bei ADIRA, deutlich. Die aktuellen Vorfälle lösen bei Betroffenen Gefühle von Angst und Besorgnis aus, denn sie zeigen auch, dass dem Antisemitismus ein stetiges Bedrohungs- und Gewaltpotenzial inhärent ist. Johanna Lauke führt weiter aus: „Uns erreichen Meldungen von Jüdinnen und Juden, die sich von dem sich derzeit Bahn brechenden Antisemitismus bedroht fühlen. Wichtig ist es daher jetzt, dass Betroffene von Antisemitismus mit ihren Erfahrungen ernst genommen werden und sie qualifizierte Unterstützung erhalten.“ Diese können Betroffene in Westfalen bei der Beratungsstelle ADIRA wahrnehmen. Die Berater*innen hören den Betroffenen zu und entwickeln gemeinsam Handlungs- und Lösungsstrategien und zeigen ihnen damit, dass sie gerade jetzt in der aktuellen Situation nicht alleine sind. 

Neben Einzelpersonen können sich auch Institutionen, die mit antisemitischen Vorfällen konfrontiert sind, an ADIRA wenden und können hier beispielsweise Fortbildungen anfragen, die dabei helfen, Antisemitismus zu erkennen und entsprechend zu handeln. „Die Dringlichkeit präventiver Arbeit gegen Antisemitismus wird gegenwärtig noch einmal auf negative Weise deutlich“, erklärt Johanna Lauke. Daneben ist jetzt konkretes Handeln gegen Antisemitismus als auch gesellschaftliche Solidarität mit den Betroffenen gefragt.

Denn diese wirkt sich positiv auf jüdisches Leben aus, erklärt Alexander Sperling: „Wir Juden möchten uns nicht von antisemitischen Ausschreitungen beunruhigen lassen. Beim Besuch jüdischer Einrichtungen in Westfalen ist die Sicherheit auch dank guter Zusammenarbeit mit den Behörden gewährleistet und muss nur noch durch wenige Umbaumaßnahmen an einigen Stellen verbessert werden. Mut macht uns die neuerliche Solidarität aus Politik und Gesellschaft, auch wenn diese Bekundungen noch deutlich lauter ausfallen könnten. Wir erwarten, dass die Mehrheit verstärkt der gefährlichen antisemitischen Minderheit entgegenstehen wird. Mit solchen Gewissheiten können wir als Jüdinnen und Juden in Westfalen weiter selbstbewusst und ohne Angst unser jüdisches Leben führen.“

Die Solidaritätskundgebungen in Gelsenkirchen, Bochum und Münster waren daher ein wichtiges Signal, entscheidend ist allerdings der langfristige Umgang mit Judenfeindschaft: „Antisemitismus richtet sich zwar gegen Jüdinnen und Juden, ist aber ein Problem der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft, dem sich gestellt werden muss. Warme Worte helfen schon lange nicht mehr weiter, es braucht endlich ein kontinuierliches Engagement und konsequentes Einschreiten gegen Antisemitismus!“, so die eindringliche Mahnung der Berater*innen von ADIRA.

Hintergrund: ADIRA (Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus) ist eine vom Land Nordrhein-Westfalen geförderte Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit mit dem Schwerpunkt Antisemitismus in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Dortmund. Seit Oktober 2020 berät und unterstützt ADIRA mit drei Mitarbeiter*innen in Dortmund Betroffene von Diskriminierung sowie bei antisemitischen Vorfällen in der gesamten Region Westfalen-Lippe. Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe K.d.ö.R. mit Geschäftsstelle in Dortmund vertritt insgesamt zehn Jüdische Gemeinden mit zusammen über 6.000 Mitgliedern in den Regierungsbezirken Arnsberg, Münster und Detmold.